SIND DIE WTO-GESPRÄCHE IN SCHWIERIGKEITEN? MAN SOLLTE NICHT DARAUF WETTEN

 

Von Walden Bello *

Übersetzung : Paul Woods and Herbert Kaser, Coorditrad

Wie ist der aktuelle „Spielstand“ in Genf?

Einige Gruppen der Zivilgesellschaft jubelten über das Scheitern der jüngsten Vollversammlung der Welt-Handels-Organisation (WTO). Sie fürchten aber, dass die Ministerkonferenz in Hong Kong zu einem Verhandlungsergebnis verdammt ist, das den Interessen der Entwicklungsländer nur schaden kann. Denn der Vollversammlung im Juli gelang es nicht, substantielle Übereinkünfte in irgendeinem wichtigen Verhandlungsgegenstand zu erzielen. Sei es über landwirtschaftliche oder nicht-landwirtschaftliche Produkte oder über Dienstleistungen.

Tatsächlich haben die meisten Beobachter, einschließlich der Medien, die Unfähigkeit die „Juli-Annäherungen“ zu erreichen, als einen deutlichen Rückschlag betrachtet dafür, im Dezember in Hong Kong ein erfolgreiches Ministertreffen sicher zu stellen. Die Erklärungen einiger WTO-Hauptakteure scheinen dem Gewicht zu verleihen. Die Bemerkung des scheidenden Generaldirektors Supachai Panitchpakdi, dass der Stand der Gespräche „enttäuschend, aber nicht katastrophal“ sei, wurde von manchen, eher als beschönigende Beurteilung verstanden, die den tatsächlich traurigen Stand der Dinge zu verschleiern. Ebenso die Erklärung der Vorsitzenden der Vollversammlung, Botschafterin Amina Mohamad aus Kenia, „es gibt keine „Krise“ in den Verhandlungen – wir brauchen den Alarmknopf nicht drücken.“

Es drängt sich der starke Verdacht auf, dass diese Erklärungen weniger den aktuellen Standes der Verhandlungen beschreiben, als vielmehr rhetorische Übungen sind, welche die Delegierten zur Eile antreiben sollen in einem Prozess, der kaum noch als in einer Pattsituation zu beschreiben ist.

Es ist sicherlich erleichternd, dass die Juli-Annäherungen nicht zustande gekommen sind, aber wie groß war der Rückschlag wirklich? Sind die Delegationen wirklich an diesem Punkt so weit von einander entfernt?

Sicher, bei den Themen, welche die Interessen der Entwicklungsländer berühren, wie die spezielle und differenzierende Behandlung (special and differential treatment = SDT) und ihre Implementierung, gibt es kaum irgendeine Bewegung. Die spezielle und differenzierende Behandlung, zum Beispiel, bewegt sich nicht, wegen der intransigenten Haltung der Europäischen Union (EU). Die Bedingung der EU für jeden Fortschritt in den Verhandlungen ist die Zustimmung durch den Block der Entwicklungsländer zu einer Aufwertung jener weiter entwickelten Volkswirtschaften wie Indien und China, welche damit aus der Reihe der Länder herausfallen, welche die Bedingungen für SDT erfüllen. Die meisten Entwicklungsländer sehen dies in der Hauptsache als eine Finte an, um sie gegeneinander auszuspielen, um SDT als ein Handlungsprinzip der WTO zu eliminieren.

KANN MODUS 4 DIE VERHANDLUNGEN VORAN BRINGEN?

Aber es gibt auch andere Besorgnis erregende Entwicklungen in anderen Bereichen, in denen die entwickelten Länder starke Interessen haben. Es wurde unlängst viel hergemacht über den Widerstand der Entwicklungsländer gegen einen Vorschlag der Europäischen Union über einen „Stufenplan“ – das bedeutet quantitative und qualitative Kriterien für eine echte und signifikante Marktöffnung, die Angebote für Dienstleistungen zu erfüllen haben, um als gültige bewertet zu werden. Jedoch scheinen die Zahlen eine andere Sprache über die Positionen der Entwicklungsländer zu sprechen. Es liegen derzeit rund 70 Eröffnungsanträge, von 95 Mitgliedsländern und rund 30 abgeänderte Anträge auf dem Tisch – sicher ein großer Sprung von den 47 Ländern, die zu Anfang dieses Jahres Anträge gestellt hatten. Die Regierungen der entwickelten Länder winkten ab, mit der Bemerkung, dass eine bedeutende Anzahl dieser Anträge nicht bedeutsam seien und keine deutliche Marktöffnung brächten. Sie dienen größtenteils nur der Verhandlungstaktik. Wahrscheinlicher ist, dass manche Anträge der Entwicklungsländer bedeuten, dass sie verhandeln wollen, aber sich nicht in die Karten blicken lassen wollen, bevor die entwickelten Länder ernst zu nehmende Signale setzten, wie zum so genannten Modus 4 des Allgemeinen Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services = GATS), der die Freizügigkeit natürlicher Person regelt.

Indien zum Beispiel, ein bedeutender Exporteur von Arbeitskräften in Länder des Nordens, benützt offensichtlich den Modus 4 als Angelpunkt seiner generellen Verhandlungsstrategie. Zugeständnisse beim Modus 4 von Seiten der EU und der USA in Gestalt von liberaleren Einreise- und Aufenthaltsregelungen für Fachkräfte wird die Regierung wahrscheinlich nachgiebiger bei den Verhandlungen über Landwirtschafts- und Industriezölle machen. Wie der Analytiker Benny Kuruvilla von ‚Focus on the Global South’ feststellt, „Indiens Forderungen zu Modus 4 sind tatsächlich sehr zahm – es ist schon zufrieden, wenn die USA ihre bestehenden Zusagen zur Arbeitsgenehmigung der Kategorie H-1 B einhält. Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass die USA Indien eine Weile hinhält, dann nachgibt, und Indien an diesem Punkt nur zu froh sein wird bei anderen Themen Kompromisse einzugehen.“

Aber Indien ist nicht das einzige Land mit einem außergewöhnlichen Interesse an einer Liberalisierung im Modus 4. Für andere bedeutende Arbeitskraft-Exporteure wie die Philippinen und Bangladesch sind Zugeständnisse zum Modus 4 durch die USA und EU wichtig und das hat wahrscheinlichen Auswirkungen auf ihre Stellung zu anderen Themen.

Die offizielle Haltung der USA zu diesem Punkt ist, dass sie nicht allzu viel Flexibilität haben, wenn es um Modus 4 geht, eine Erklärung, die zum Teil für den Gebrauch daheim bestimmt ist, wegen der starken Ressentiments gegen die Zuwanderung im eigenen Land. Aber dies ist überwiegend ein Teil der Verhandlungsposition, wie es der Dienstleistungsexperte Tony Clarke vom Polaris-Institute darstellt, „fraglos wollen die USA und die EU den Modus 4 umsetzen im Interesse ihrer Klientel, der Konzerne, an möglichst vielen billigen Arbeitskräften. Tatsächlich betreibt die US Koalition der Dienstleistungsindustrie massive Lobbyarbeit, um Washington zur Liberalisierung des Zuganges für Facharbeiter zu bewegen. Aus all diesen Gründen, warnt Clarke, „könnte Modus 4 sich entweder förderlich oder hinderlich für eine Vereinbarung erweisen.“

KEINE BEWEGUNG BEI NAMA?

Gibt es wirklich keine Bewegung im Bereich des Marktzuganges für nicht-landwirtschaftliche Produkte (=Marktzugang für Industriegüter, Non-Agricultural Market Access = NAMA)? Wiederum, wie bei den Dienstleistungen, scheinen die Verhandlungen vordergründig gekennzeichnet von lauten Meinungsverschiedenheiten über Formeln zur Zollsenkung, über die Berechnung der Zölle, und der Anwendung des Prinzips der unvollständigen Wechselseitigkeit und der speziellen und differenzierten Behandlung. Jedoch, bei näherem Hinsehen, gibt es besorgniserregende Zeichen einer Annäherung der verschiedenen Standpunkte:

•  Trotz anfänglichen Murrens nach der Rahmenvereinbarung vom Juli 2004, haben die Entwicklungsländer den „Derbez-Text“ , den sie in Cancun abgelehnt hatten, als Grundlage für Verhandlungen akzeptiert, wie in der Rahmenvereinbarung vorgeschlagen.

•  Es gibt jetzt Übereinstimmung über eine nicht-lineare Formel zur Zollermäßigung nach der Schweizer Formel , die auf alle Produkte angewandt werden kann und die höhere Zölle einer proportional größeren Ermäßigung unterwirft als niedrige Zölle. Damit wären viele Entwicklungsländer benachteiligt, die relativ höhere Zölle anwenden als entwickelter Länder auf viele industrielle Schlüsselprodukte. Eine Fromel nach dem Muster der Uruguay-Runde wird nicht einmal diskutiert. Sie brächte eine durchschnittliche Zollermäßigung quer durch die Industrie sie überlässt es aber den nationalen Autoritäten Sätze für besondere Produkte zu bestimmen. Hätten die Entwicklungsländer eine Wahlmöglichkeit, würden sie das weniger ablehnend betrachten als die Schweizer Formel.

Die entwickelten Länder bringen den Verhandlungspositionen der Entwicklungsländer sehr wenig Sympathie entgegen. Sie wollen durch die Anwendung des Prinzips der „unvollständigen Wechselseitigkeit“ und der „speziellen und differenzierten Behandlung“ auf Grund verschiedener Stufen der wirtschaftlichen Entwicklung, einen deutlichen Grad des industriellen Protektionismus beibehalten. Damit war der Verhandlungsspielraum der Entwicklungsländer zunehmend eingeengt. Sie sind gezwungen die für sie beste nicht-lineare Formel vorzuschlagen, welche die Auswirkungen einer vollständigen Liberalisierung zwar verringern, aber nicht grundsätzlich vermeiden würde. Die jüngste vorgelegte Formel ist der so genannte „pakistanische Kompromiss“. Damit wir der durchschnittliche Zolltarif als Faktor in die Formel eingeführt mit einem Koeffizienten von 6 für Entwicklungsländer und einem von 30 für entwickelte Länder. Dies würde dem pakistanischen Vorschlag zufolge, die Produktkosten für alle deutlich verringern (ein Anliegen der entwickelten Länder), die Preise innerhalb einer jeden Gruppe harmonisieren (ein Ziel der WTO) und weiterhin wenigstens einen Teil des Abstands zwischen den durchschnittlichen Zollsätzen zwischen der Gruppe der entwickelten und der sich entwickelnden Länder beibehalten (ein Anliegen der Entwicklungsländer).

 

Natürlich halten einige Entwicklungsländer daran fest, dass neben der Formel für die Zollermäßigung die Prinzipien der unvollständigen Wechselseitigkeit und des SDT auch das Maß für die Liberalisierung der Zolltarife für die Entwicklungsländer bestimmen sollten. Es scheint aber, dass der jetzige Schwung in Richtung auf eine Einigung über die Koeffizienten in der Formel geht. Es ist wahrscheinlich, dass der pakistanische Vorschlag – den niemand direkt verwarf, obwohl einige Industrieländer wie die USA sich beschweren, dass die Kluft zwischen den Koeffizienten für entwickelte und sich entwickelnde Länder zu weit sei. Irgendetwas Ähnliches wird die Basis für die NAMA-Gespräche sein, wenn sie im September wieder aufgenommen werden. Wie ein Analyst, der die NAMA-Verhandlungen unmittelbar verfolgte, berichtet, “Laut einigen Leuten in Genf, hat es die pakistanische Formel wahrscheinlicher gemacht, dass die Verhandlungen nunmehr lediglich über unterschiedliche Koeffizienten innerhalb einer einfachen Schweizer Formel sein wird, nicht über andere Formeltypen oder breitere Alternativen. Dies würde alle einer Einigung näher bringen, aber es gibt immer noch viel zu verhandeln, da Entwicklungsländer nach einem größeren Unterschied zwischen den Koeffizienten rufen werden als die USA und die EU bereit sein werden zuzugestehen.“

Auf jeden Fall war es mehr als Rhetorik als der stellvertretende US Handelsdelegierte Peter Allgeier am 28. Juli die folgende optimistische Erklärung abgab: „Der vor uns liegende Weg zum NAMA ist viel deutlicher, aufgrund der Arbeit, die in den vergangenen Wochen getan wurde… Mehrere konstruktive Ideen liegen auf dem Tisch. Es gab von allen Seiten Signale von Flexibilität um die richtige Formel zu finden und Koeffizienten anzuwenden, um konkrete Möglichkeiten für den Marktzugang zu schaffen. Wir müssen im September schnell die Signale für eine Annäherung umsetzen in Kompromisse, die allen nützen.“

LANDWIRTSCHAFT: BESORGNISERREGENDE ENTWICKLUNGEN

Die Landwirtschaft jedoch ist der Schlüssel entweder zum Fortschritt oder zum Zerfall. Ohne Bewegung bei den Verhandlungen über die Landwirtschaft, wird die Bewegung in den anderen Bereichen nicht in ein erfolgreiches Liberalisierungspaket in Hong Kong umgesetzt werden können.

Es bewegt sich kaum etwas bei den heimischen Agrarsubventionen – eine der drei „Säulen“ des Landwirtschafts-Abkommens (Agreement on Agriculture = AoA), neben Exportwettbewerb und Marktzugang. Versuche, die „Blaue Kategorie“ und die „Grüne Kategorie“ zu reformieren, sie beschreiben die Kategorien der Subventionen, die von den Kürzungen durch das AoA ausgenommen sind, scheiterten an der ablehnenden Haltung der EU und der USA. Tatsächlich versuchen die USA die „Blaue Kategorie“ auszuweiten, um einen Großteil der 190 Milliarden US $ unterzubringen, die mit der US Farm Bill des Jahres 2002 genehmigt wurden. Dies gab dem EU Handelskommissar Peter Mandelson die Gelegenheit sich in seiner Stellungnahme moralisch zu entrüsten, die USA sollten die Initiative zu Subventionskürzungen ergreifen. Allerdings ist Niveau der Agrarsubventionierung in der EU gegenwärtig höher als in den USA, aber es fällt, während das der US „unreformiert“ sei und „wachse, als ein Ergebnis der Farm Bill von Präsident Bush“. Aber das ist ein Fall vom „Splitter im Auge des anderen, während ein Balken im eigenen Auge…“. Die EU hat keinerlei Absicht ihre eigenen Subventionen zu kürzen, ob sie nun durch die Blaue Kategorie oder die Grüne Kategorie strömen.

Andere schwierige Themen bleiben ungelöst, darunter die Forderung der Gruppe der 33 für eine Positivliste „ spezieller Produkte “ (SP) oder Handelswaren, für die es keine deutliche Zollermäßigung geben soll, und ihr Vorschlag für einen „ speziellen Schutzmecha­nismus “ (SSM), die es den Entwicklungsländern gestatten würde Zölle anzuheben, um sich selbst gegen Dumping zu schützen. (Siehe den nachfolgenden Artikel zu weiteren Details über die „Gruppen“ in der WTO).

Leider gibt es jedoch Bewegung bei den beiden anderen Säulen der Verhandlungen: Exportwettbewerb und Markzugang.

Der wichtigste Schlüssel zu den Verhandlungen über die „Säule“ Exportwettbewerb ist für viele Länder das Datum und der Zeitplan der EU für das versprochene Ausklingen ihrer Exportsubventionen. Ein Thema mit düsteren Möglichkeiten, wie wir unten sehen werden.

Mehr noch – auf der WTO „Mini-Ministerkonferenz“ in Dalian in China, am 12. und 13. Juli, hat die Gruppe der 20 Entwicklungsländer einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, der manchen als Grundlage erschien für einen Durchbruch beim Thema Marktzugang für eine liberalisierten Agrarmarkt. Der Vorschlag der G-20 würde die Länder der Welt in fünf Bandbreiten unterteilen, wobei jedem Band unterschiedliche Sätze für die Liberalisierung der Zölle zugeordnet würden. In jedem Band würden einheitliche Ermäßigungsraten für alle Produkte festgelegt. Produkte in den höheren Bandbreiten, also Produkte mit höheren Anfangs-Zoll-Tarifen, würden in größeren Raten ermäßigt als solche in den niedrigeren Bandbreiten. Zusätzlich würden alle Zölle mit 150 % für Entwicklungsländer und 100 % für entwickelte Länder gedeckelt.

Nach der Konferenz in Dalian, sagte der US-Handelsbeauftragte Robert Portman, „Wir haben ein Rahmenwerk.“ Die EU-Landwirtschafts-Kommissarin Marianne Fischer-Boll bestätigte dies, sie nannte den Vorschlag eine „gute Grundlage für die zukünftige Arbeit“. Sie fügte allerdings hinzu, dass die EU ein System mit nur drei Bandbreiten bevorzugen würde. Wenn im September die Verhandlungen wieder aufgenommen werden, wird dieses Rahmenwerk wahrscheinlich übernommen. Allerdings wird sich die Debatte von den Modalitäten weg bewegen hin zur Frage welches Lang gehört in welches Band und in welchen Raten werden die Zölle reduziert.

 

Kurzum, trotz des Patts bei den heimischen Subventionen, gibt es eine besorgniserregende Bewegung bei zwei der drei Säulen der Agrarverhandlungen und dies könnte Schwung bringen, nicht nur für die ungelösten Fragen in den Agrarverhandlungen, sondern könnte auch den Weg freimachen zu Abkommen in den anderen Verhandlungsthemen wie NAMA und Dienstleistungen.

DER „LAMY FAKTOR“

Eine Veränderung bei der Beschleunigung der Verhandlungen könnte der „Lamy-Faktor“ bewirken. Der neue Generaldirektor, neu im Amt, ein exzellenter Unterhändler. Er ist auch ein sehr geschickter Politiker, auf dem Weg zur Spitze der WTO schmiedete er eine Nord-Süd-Allianz, die das Lager des Südens spaltete und seine drei Rivalen, alle aus Entwicklungsländern, im Staub liegen ließ. Tatsächlich ist die Vermutung in Genf weit verbreitet, selbst unter den Delegationen der Entwicklungsländer, dass Lamy, früherer EU Handelskommissar, der rechtmäßige Thronfolger sei. Seine Förderer findet man von Brüssel über Washington bis hin zu den am wenigsten entwickelten Ländern (LDC). Er pflegte gute Beziehung zu einflussreichen Nicht-Regierungs-Organisationen ( NRO). Barbara Stocking von Oxfam (Eine britische …Organisation) lobte ihn als die Schlüsselperson für die EU-Initiative „Everything but Arms“ (EBA – alles außer Waffen), die den zollfreien Zugang für landwirtschaftliche Produkte aus den am wenigsten entwickelten Ländern fordert.

Für andere ist Lamy ein wirklich geschickter Manipulator, der letztendlich die Interessen der EU und des entwickelten Nordens vertritt, während er Sympathie für Entwicklungsländer ausstrahlt. Die Initiative EBA illustriert es: es gibt eine lange Einführungsphase – bis 2009 – für Schlüsselexporte wie Reis, Bananen und Zucker. Es ist auch eine ständige begleitende Überprüfung und Revision vorgesehen. Die Initiative wird nur auf landwirtschaftliche Produkte angewandt, dadurch werden Anreize und Befähigungen zur Diversifizierung und Industrialisierung behindert. Ein Zeugnis für Lamys Verhandlungsgeschick und seine wirksame PR: Es gelang ihm, vielen Regierungen von LDCs ein riskantes Abkommen als bedeutsamen Sieg zu verkaufen und manche NROs des Nordens dazu zu bringen, die europäische Landwirtschaftslobby anstatt sich selbst für dessen einschränkenden Elemente verantwortlich zu machen.

Auf jeden Fall kennt Lamy die Risse im Block der Entwicklungsländer, zum Beispiel zwischen den G-20, G-33 und den LDCs, und er wird nicht zögern diese zu nützen, um ein sich weit reichendes Abkommen durchzudrücken. Er kennt sich auch aus in der Welt der NROs und wie man sie spalten kann in „Reformer“ und „Radikale“ wie man das im WTO-Sekretariat bezeichnet. Mehr noch, er ist ein Mann mit einem Auftrag: Für ihn war Cancun ein Scheitern und eine Erniedrigung: er wird in Hong Kong eine Umkehr des Ergebnisses anstreben.

ALBTRAUM SZENARIO

Welches Szenario könnte zu einer erfolgreichen Ministerkonferenz führen?

Eine mögliche Entwicklung: In der Vorbereitungsphase zur Rats-Vollversammlung im Oktober, verkündet der EU-Kommissar für Handel Mandelson einen Fahrplan für das Auslaufen der EU-Exportsubventionen. Die Ankündigung ist nicht ohne Zusammenhang mit einer Anmerkung des US-Handelsbeauftragten Portman auf einer Pressekonferenz, dass man „offen“ ist auch weiterhin noch zu spezifizierende Regelungen für die Nahrungsmittelhilfen und Exportstützungen auszuhandeln, zwei Kanäle der Exportsubventionierung, die der EU sehr wichtig sind. Diese „Oktoberüberraschung“ ist nach Ansicht mancher Analytiker so überraschend nicht. Der Genfer Aktivist Jacques Chai Chomthongdi von „Focus on the Global South“ sagte „Ich denke sie [die Europäer] wissen schon das Datum, es ist nur eine Frage der Wahl des richtigen Zeitpunktes, wann die Erklärung den größten Effekt haben wird.“

Tatsächlich hat die Ankündigung – obwohl das Datum weit in der Zukunft liegt, in etwa 2015, und im klein Gedruckten an Bedingungen geknüpft ist – einen dramatischen Effekt und übt enormen Druck auf die Entwicklungsländer aus, einem Kompromiss bei den Verhandlungen über den Marktzugang zuzustimmen. Es wird Brasilien zufrieden stellen, da es unterm Strich bei den Verhandlungen die Aufhebung der EU-Exportsubventionen erreichen will. Mehr noch, tief in einen Korruptionsskandal im eigenen Land verwickelt, klammert sich die Regierung Lulas an diese Entwicklung, um als Triumph für die Menschen Brasiliens hinauszuposaunen, was in Wahrheit eher ein Zugeständnis an die brasilianische Agrar-Industrie ist. Auf jeden Fall entmutigt diese Ankündigung Brasilien, in anderen Verhandlungsbereichen allzu aggressiv zu feilschen.

Die Wirkung dieses Schachzuges wird kaum abgefedert, wenn Lamy verkündet, dass die EU und die USA entschieden haben, kleinere Zugeständnisse bei der Liberalisierung der Einreise- und Aufenthaltsregeln für Facharbeiter aus Entwicklungsländern zu gewähren. Bei der verzweifelten Suche nach einem Sieg, den es zuhause triumphierend vorweisen kann, überzeugt sich die indische Regierung selbst, dass ihre Hauptanliegen berücksichtigt wurden. Das wirkt sich auf ihre Haltung in anderen Verhandlungsbereichen aus.

Nachdem den Entwicklungsländern die Gründe für aggressive Aktionen abhanden kamen bleiben rhetorische Gebärden der beiden wichtigsten Führer, damit ziehen sie sich zurück auf eine anpassungswilligere Haltung bei den Verhandlungen. Eine kritische Masse von Ländern fordern Angebote mit „besseren Qualität“ für die Verhandlungen am Dienstleistungssektor. Die NAMA-Verhandlungen beschleunigen sich, basierend auf dem Vorschlag Pakistans und die Diskussionen über den Zugang zum Agrarmarkt nähern sich einem Abschluss.

Das Gerangel zwischen den USA und der EU um Blaue Kategorie und Grüne Kategorie Subventionen wird noch etwas länger weiter gehen, aber beide Seiten werden von Lamy daran erinnert, dass sie sich eine Wiederholung von Seattle nicht wünschen, wo die Kluft zwischen der EU und den USA beim gleichen Thema einer der Faktoren war, welche die dritte Ministerkonferenz von 1999 scheitern ließ. Beide Seiten einigen sich auf eine Formel, um das Gesicht zu wahren. Sie setzen lockere Deckel auf einige unbedeutende Subventionen, die durch die Blaue Kategorie und die Gelbe Kategorie. Mit anderen Worten, es gibt keine Veränderung beim Status Quo der Säule heimischer Subventionen. Dies bedeutet die Märkte der Entwicklungsländer werden weiter überschwemmt.

Für die Vollversammlung am 19. und 20. Oktober kündigt Lamy an, dass eine wesentliche Einigung für die Landwirtschaft, für den NAMA und für die Dienstleistungen erreicht wurde. Die Vollversammlung schlägt eine Zustimmungserklärung vor, welche die Schlüsselpunkte eines Übereinkommens in diesen Bereichen bestätigt. Es soll als Entwurf für die Erklärung zur Ministerkonferenz in Hong Kong dienen. Lamy sagt, dass nur noch Bereinigungen übrig blieben – was bedeutet, dass nur noch Abkommen über weniger strittige Punkte zusammen geführt werden müssen, wie spezielle Produkte , spezielle Produkte, spezielle Schutzmecha­nismen , staatliche Handelsunternehmen, Nahrungsmittelhilfe, spezielle und differenzierende Behandlung und deren Implementierung.

Bis Anfang Dezember werden die Entwicklungsländer in unfaire Abkommen über so genannte Rest-Themen zusammen getrieben worden sein. Lamy wird den G-33 und den NROs erzählen, dass ein zahnloses Abkommen über spezielle Produkte und spezielle Schutzmecha­nismen , das der EU und den USA erlaubt, „ spezielle Produkte “ von deutlichen Zollsenkungen auszunehmen, sei das Beste, was sie unter den gegebenen Umständen erhalten könnten. Die mächtigen Handelsriesen werden eine Kampagne starten, um die Vorbehalte der Entwicklungsländer als Hindernisse für die Bemühungen zu schildern, eine blühende Weltwirtschaft zu erreichen, so wie sie es im Vorfeld zur Ministerkonferenz in Doha im November 2001 getan haben.

Eine Erklärung ohne Klammern wird der Ministerkonferenz in Hong Kong vorgelegt werden, und Lamy wird triumphierend verkünden, dass, während eine Reihe von Angelegenheiten noch der letzten Klärung bedürften, die Doha-Runde praktisch abgeschlossen sei, und er wird darauf drängen, dass die Welt zu einer neuen Runde von noch tieferer und noch umfassenderer Liberalisierung aufbrechen müsse.

DIE HERAUSFORDERUNG AN DIE ZIVIL-GESELLSCHAFT

Aus unserer Sicht ist dieses Szenario oder etwas Gleichartiges nicht zu weit hergeholt. Der Druck zu einer Vereinbarung zu kommen lastet enorm auf allen und niemand will Schuld sein an einem Scheitern wie in Seattle oder in Cancun. Wie der Repräsentant einer wichtigen NRO in Genf es ausdrückte: „Mein allgemeines Empfinden ist… wir sind vermutlich nicht weit von einer Einigung entfernt, aber nicht notwendigerweise, weil alles gelöst ist, sondern weil die Schlüsselländer eine Einigung erreichen möchten. Die Verhandlungsrunde so schnell wie möglich beendet werden, wissend, dass das Abkommen „nicht sehr ehrgeizig“ sein wird. Kein Mitglied, keine Gruppe scheint bereit zu einer totalen Opposition, zu einer „hier ist Schluss“ Einstellung.

Wie aus dieser Erklärung hervorgeht, ist die einzige echte Blockade gegen ein schlechtes Abkommen für die Entwicklungsländer die Zivilgesellschaft. Statt den „mangelnden Fortschritt in den Verhandlungen“ zu beklagen, wie es manche internationalen NRO getan haben, sollte die globale Zivilgesellschaft in den kommenden Wochen den Druck auf die Regierungen der Entwickelungsländer erhöhen, damit sie nicht dem Druck nachgeben und Verfahren zustimmen, die den Spielraum ihrer Politik drastisch verringern.

Der Druck von den Bürgern ist an diesem Punkt entscheidend.

Beginnend mit Mitte August muss daher eine Zeit des intensiven Lobbyismus sein. Es muss eingehämmert werden dass die Verhandlungsrahmen, die durch das Rahmenabkommen vom 24. Juli gesetzt wurden so eng sind, dass sie nichts anderes herauskommen kann wie der Entwurf der G-20 über den Zugang zum Agrarmarkt und der Entwurf Pakistans zu NAMA, welche beide den Konkurs für die Entwicklung anmelden unter dem Vorwand Kompromisse zu schließen.

Die Regierungen der Entwicklungsländer sollten zurück an den Anfang geführt werden: Das Rahmenwerk vom Juli eliminiert praktisch jeden Entwicklungsraum für alle Bereiche die verhandelt werden. Die Regierungsvertreter müssen ständig daran erinnert werden, dass gar kein Geschäft besser ist als ein schlechtes Geschäft und dass alles, was ihnen in den Verhandlungsbereichen vorgesetzt wird, Geschäfte sind, die von schlecht bis am Schlechtesten reichen,

Die G-33 Länder müssen dazu bewegt werden, aggressiver aufzutreten und zu fordern, dass ein faires Abkommen über spezielle Produkte und spezielle Schutzmecha­nismen vorderstes und zentrales Ziel der Verhandlungen über die Landwirtschaft sein muss, und nicht als zweitrangiges Anliegen behandelt werden darf. Sie müssen allen Bemühungen entgegen treten, dass diese Forderung mit der EU-Gegenforderung verknüpft wird, manche EU-Handelsgüter als „ spezielle Produkte “ zu listen und sie von signifikanten Zollsenkungen auszunehmen.

Die Regierungen müssen davon überzeugt werden, dass sie mindestens ein Einfrieren der Verhandlungen über NAMA versuchen müssen, denn jedes Abkommen zu diesem Zeitpunkt hätte destruktive Auswirkungen einer De-Industrialisierung. Es sollte betont werden, dass sie eine gute Argumente haben: die Tagesordnung, wie sie in Doha vereinbart wurde, hat ein Übereinkommen zu NAMA nicht als Priorität.

Es muss auch Lobbyarbeit geleistet werden, damit die Regierungen die Bedingungen des Modus 4 nicht akzeptieren. Damit wird nur der Zugang für Facharbeiter liberalisiert, und sie müssen erkennen, dass die Liberalisierung von Dienstleistungen im Tausch gegen Modus 4 Bedingungen wirklich ein sehr schlechtes Geschäft ist. Sie sollten sich von der Illusion verabschieden, dass der Modus 4 irgendeine Erleichterung für ihre Probleme mit der Arbeitslosigkeit bringt. Die EU und die USA werden wahrscheinlich nur den Zugang für hoch qualifizierte Facharbeiter liberalisieren und das verschlimmert lediglich ihren brain-drain.

Sie müssen jetzt schon gewarnt werden, dass eine strategische Erklärung zu einem geschickt gewählten Zeitpunkt über einen Fahrplan zum Abbau von Exportsubventionen durch die EU kommen wird. Dies sollte nicht als Grund gesehen werden, wie eine wild gewordene Herde einem schlechten Abkommen nachzurennen über die Landwirtschaft oder über ein anderes Thema.

Wichtig ist, schon Anfang September vorbeugend den Schwung der Verhandlungen umzukehren. Je mehr Druck von unten auf die Regierungen kommt, je komplexer die Verhandlungen werden, umso schwieriger wird es werden Übereinstimmung zu erzielen und umso größer ist die Möglichkeit den Prozess zum Entgleisen zu bringen.

Wir treten in die gefährlichste Phase der Verhandlungen ein, in der ein Abkommen entweder erreicht oder verworfen wird. Die kommenden vier Monate werden bestimmen, ob die WTO sich als der Motor der globalen Liberalisierung des Handels etablieren kann und wir in die Schöne Neue Welt mit noch mehr Liberalisierung eintreten oder ob der Prozess, der die Liberalisierung des Handels umkehrt, an Schwung gewinnen wird und dass die WTO als eine Maschine für die Globalisierung zerstört wird.

*Walden Bello ist Exekutivdirektor von Focus on the Global South und Soziologieprofessor an der Universität der Philippinen.

Gestattet es ausländischen Unternehmen, Verträge zur Dienstleistungserbringung zu schließen und die Arbeiter hiefür selbst bereitzustellen.

 

Dieser Text wurde am 13. September 2003 vom Vorsitzenden der 5. Ministerkonferenz in Cancún – dem mexikanischen Außenminister Derbez – den teilnehmenden Ministern als neues Kompromissdokument vorgelegt.

 

Erklärung: http://europa.eu.int/comm/trade/gentools/glo2cont_de.htm